Welthauptstadt des Fuballs - Willkommen in Buenos Aires! 11FREUNDE

Publish date: 2024-11-19

So viele Legenden, so viele Tra­gö­dien. Wo fängt man an in der Welt­haupt­stadt des Fuß­balls? Bei den Boca Juniors, dem berühm­testen Verein Ame­rikas, dem erfolg­reichsten Klub jen­seits von Mai­land? Wer Buenos Aires besucht und halb­wegs Sinn für Mythen hat, der pil­gert ja außer ins Teatro Colón auf jeden Fall zur Kult­stätte namens Bon­bonera, der Pra­li­nen­schachtel, und ihrem in Bronze gegos­senen und manchmal auch echten Diego Mara­dona. Oder beginnt man besser bei den Argen­tinos Juniors, wo das Wun­der­kind Mara­dona mit den Füßen selbst Orangen in der Luft hielt und erwachsen wurde, wes­halb das Sta­dion nach ihm benannt ist? Bei Bocas Erz­feind River Plate, der Alfredo di Ste­fano her­vor­brachte und sein monu­men­tales Oval später von einer Mili­tär­dik­tatur miss­brau­chen lassen musste? Oder beim Racing Club, den der ehe­ma­lige Staats­prä­si­dent Juan Dom­ingo Perón, Gatte von Evita, liebte – und der Lothar Mat­thäus ver­schmähte? Bei 249 Toten unter den Hin­chas, den Fans? Viel­leicht am besten an einem Wochen­ende 2010.

Wäh­rend in Europa langsam der Winter naht, liegt über dem Rio de la Plate sanfter Früh­ling. Der Himmel ist hell­blau und weiß wie die Flagge Argen­ti­niens und das Trikot ihrer Aus­wahl, der Albice­leste. Wie die Fahne von Racing, einem alten Granden in dieser Geschichte, aber der hat an diesem Samstag ein Aus­wärts­spiel. Wobei ein Aus­wärts­spiel hier meis­tens bedeutet, dass die Adresse nur ein paar Kilo­meter oder Straßen ent­fernt liegt, in diesem Fall im Vorort Tigre am Delta des großen, braunen Flusses. Zuvor emp­fangen bereits die Argen­tinos Juniors in ihrer Arena Diego Armando Mara­dona“ den Besuch aus Ban­field, der es eben­falls nicht weit hatte. Argen­tinos war wenige Wochen zuvor Meister geworden, Ban­field im Halb­jahr davor, nach sieben Spiel­tagen aller­dings belegt Argen­tinos den zwan­zigsten und letzten Tabel­len­platz.

Eine lau­warme Brise streicht durch die zugigen und oft bau­fäl­ligen Tri­bünen aus blankem Beton. Es ist ein gewöhn­li­cher Spieltag. Das heißt, dass acht der zehn wich­tigsten Par­tien im Dunst­kreis von 13 Mil­lionen Ein­woh­nern statt­finden. 14 von 20 Klubs der Pri­mera A stammen aus diesem Groß­raum. Dahinter beginnt die Pampa. Jen­seits der Kapi­tale sind in der zen­tra­li­sierten Repu­blik bloß die Städte La Plata, Rosario, Men­doza, Santa Fé und Bahia Blanca erst­klassig in Sachen Fuß­ball, zumin­dest bis Dezember. Die erwei­terten offenen Stadt­meis­ter­schaften dauern nur vier bis fünf Monate und heißen wie die gerade lau­fende Hin­runde Aper­tura, Eröff­nung, die Rück­runde heißt Clau­sura, Schlie­ßung. Alle Teil­nehmer begegnen sich pro Tur­nier nur einmal. Die zweit­klas­sige Pri­mera B zählt fünf Ver­treter aus dem erwei­terten Buenos Aires, in der dritt­klas­sigen Pri­mera C sind es 13. Nir­gendwo sonst treten auf sol­chem Niveau in kurzer Zeit der­maßen viele Nach­barn gegen­ein­ander an, zwi­schen Freitag und Sonntag die lokalen Erst­li­gisten Argen­tinos, Quilmes, Ban­field, Lanús, Tigre, All Boys, Arsenal, Huracán, Boca, Racing, River, Vélez, Inde­pen­di­ente. Die letzten fünf davon waren Welt­po­kal­sieger, bei den meisten ist das aller­dings schon geraume Zeit her.

Es riecht nach Schweiß und Mate – manchmal auch nach Blut

Selbst Gele­gen­heits­gäste mit Geschmack erliegen diesem Zauber. Franz Becken­bauer gab nach der WM 1966 sein Debüt in Argen­ti­nien, es war seine erste Fern­reise mit dem FC Bayern. Die Münchner, sei­ner­zeit noch inter­na­tional ohne bedeu­tende Tro­phäe, traten an zum Freund­schafts­spiel bei Racing, das 1967 gegen Celtic Glasgow in zwei wilden End­spielen den Inter­kon­ti­nen­talcup erbeu­tete. Die Men­schen auf den Straßen in Buenos Aires haben Tango getanzt, das war unfassbar“, erin­nerte sich Viel­flieger Becken­bauer kürz­lich in einem Inter­view, wobei Tan­go­tänzer jen­seits von Tan­go­lo­kalen eher die Aus­nahme sind. Was stimmt: Argen­ti­nien riecht anders als Deutsch­land“, erzählte der Kaiser zu Recht, wür­ziger, schärfer, sinn­li­cher. Ich habe den Geruch noch heute in der Nase.“ Ein Spieltag riecht nach Gras, nach Staub, nach Schweiß, nach herbem Mate-Tee, getrunken mit Stro­halm aus Metall. Nach Bier, das so heißt wie Inka-Ruinen und ein Auf­steiger: Quilmes. Nach gegrilltem Fleisch und gegrillten Würsten im Brot, dem Cho­ripan. Bei Här­te­fällen außerdem nach Blei und Blut und Trä­nengas. Und immer nach Fuß­ball.

Die gru­se­lige WM 1978 ließ Argen­ti­nien-Fan Becken­bauer trotzdem aus, auch da hatte er den rich­tigen Instinkt. Es gewann ein anderer Kaiser, Daniel Pas­s­a­rella mit einem anderen Fein­schme­cker als Trainer, César Luis Menotti. Der zot­tel­haa­rige Ket­ten­rau­cher, Bran­chen­name El Flaco, der Schmale, führte die hei­mi­sche Aus­wahl wäh­rend des Regimes der Junta zum Titel. Damals erfanden die Zuschauer trotz der sonst so strengen Regeln der Gene­räle eine argen­ti­ni­sche Spe­zia­lität, die nachher welt­weit in Mode kam, das Werfen mit Klo­rollen und Papier­schnip­seln, bis der grüne Rasen weiß ist. Wenige Kilo­meter ent­fernt wurden der­weil in der Mari­ne­schule ESMA Regime­gegner gefol­tert. Über­le­bende erzählten, wie sie die Tor­schreie hörten und mit ihren Fol­ter­knechten den Final­sieg über Hol­land feiern mussten.

32 Jahre später stehen die Mörder vor Gericht, und River Plate spielt an dem Ort des grau­sigen WM-Tri­umphs. Stra­tege Menotti begeg­nete der Tyrannei der Gene­räle mit prag­ma­ti­scher Distanz, er gilt als ewiger Phi­lo­soph. Kürz­lich hat er den Mana­ger­posten bei Inde­pen­di­ente hin­ge­schmissen. Lieber pflegt Menotti sein Image als Schön­geist und ent­deckt im Fuß­ball­uni­versum von Buenos Aires ein rät­sel­haftes Etwas, das den Fuß­ball Argen­ti­niens ein­zig­artig macht“.

Das rät­sel­hafte Etwas ist überall, es begleitet die Por­teños, die Bewohner dieses Mikro­kosmos, bis in die letzten Ritzen, durch alle Krisen, Höhen­flüge und Frus­tra­tionen. Fuß­ball gespielt, geschaut, gehört oder gelesen wird an jeder Ecke, in jedem Café, jedem Park, an der Auto­bahn, in Hin­ter­höfen, neben Kuh­weiden, zwi­schen Hoch­häu­sern und Slums. Sieben Mit­glieder der Eli­te­klasse drängen sich im Stadt­ge­biet von Capital Federal, wie die Haupt­stadt heißt, und wei­tere sieben in der Pro­vinz Buenos Aires jen­seits der Stadt­au­to­bahn General Paz. Jeder hat in diesem Häu­ser­meer sein eigenes Sta­dion, sein Revier, seine Gemeinde, seine His­torie. Und die Bolz­plätze von Buenos Aires sind die bedeu­tendste Talent­schmiede des Globus, die Wiege von di Ste­fano, Mara­dona, von Tevez, Agüero und so weiter. Nur wenige Por­teños wenden sich befremdet ab wie einst der Dichter Jorge Luis Borges, der fand: Fuß­ball ist populär, weil die Dumm­heit populär ist.“ Er ver­an­stal­tete wäh­rend der WM-Eröff­nung 1978 eine lite­ra­ri­sche Pres­se­kon­fe­renz im Teatro San Martín. Und er starb, als Mara­dona die WM 1986 in Mexiko eroberte und zur Gott­heit auf­stieg.

Der Fuß­ball ist eines der größten Ver­bre­chen von Eng­land“

Ansonsten ist kein Ent­kommen. Der Klang nach Fuß­ball dringt von den Rängen und aus Bussen, aus Radios und Fern­se­hern, an Spiel­tagen 900 Minuten hin­ter­ein­ander. Kaum ein Match in Klasse eins findet zeit­gleich mit einem anderen statt, seit die argen­ti­ni­sche Regie­rung die Fern­seh­rechte hat kaufen lassen und sämt­liche Spiele auf öffent­li­chen Kanälen über­tragen lässt. Motto: Fuß­ball für alle.“ Vorher zeigten manche Sender man­gels Lizenzen bloß das Publikum, was auch ganz lustig war, dazu ließen sie Radio­stimmen laufen. Die berühm­teste ist die von Victor Hugo Morales, Polit­mo­de­rator, Sport­re­porter und Opern­ex­perte von Radio Con­ti­nental, geboren in Uru­guay. Seine Urschreie beglei­teten schon 1986 Mara­donas Allein­gang gegen die Eng­länder.

Das gran­diose Solo und das vor­her­ge­hende Tor mit seiner Hand Gottes war damals die Rache für den 1982 ver­lo­renen Krieg um die Inseln namens Mal­vinas alias Falk­lands, das große natio­nale Trauma. Zumin­dest diese Revanche müsste im Sinne des wort­ge­wal­tigen Ball­has­sers Borges gewesen sein, denn er klagte: Der Fuß­ball ist eines der größten Ver­bre­chen von Eng­land.“ Die Briten waren es, die Fuß­ball einst nach Argen­ti­nien gebracht hatten, als das ferne Land mit seinen vielen Rin­dern für die Krone inter­es­sant geworden war. Die Chro­nisten berichten, der Schotte Alex­ander Watson habe 1886 in der Buenos Aires High School den Buenos Aires Foot­ball Club eröffnet.

1904 grün­deten vor­nehm­lich bri­ti­sche Eisen­bahner im Stadt­teil Cabal­lito die Ver­ei­ni­gung Ferro Carril Oeste, die es in den Acht­zi­gern bis zum Süd­ame­ri­ka­meister brachte und sich heute mit Mühe in der zweiten Liga hält. Bereits 1928 erkannte jedoch das noch immer ein­fluss­reiche Fach­blatt Grá­fico, Argen­ti­niens Spiel­weise sei anders als die eng­li­sche weniger ein­tönig, weniger dis­zi­pli­niert und opfert den Indi­vi­dua­lismus nicht der Summe kol­lek­tiver Kräfte“. Acht Jahr­zehnte danach kann man das nur bestä­tigen. Ihren eng­li­schen Wur­zeln bleiben viele Ver­eine den­noch treu, vor­neweg River Plate, Racing oder All Boys, das sein Sta­dion gleich­wohl zur Strafe Islas Mal­vinas nennt. Die hie­sige Ver­sion von Arsenal dagegen kam nur zu ihrem Namen, weil der Prä­si­dent des argen­ti­ni­schen Fuß­ball­ver­bandes, Julio Gron­dona, ein eigenes Arsenal wollte. Also grün­dete er 1957 mit seinem Bruder Hèctor einen Klub dieses Namens, dessen Sta­dion inzwi­schen selbst­ver­ständ­lich den Namen des Patrons und heu­tigen FIFA-Vizes Gron­dona trägt.

Der uner­müd­liche Martin Palermo – reif für die Couch?

River Plate wurde wie sein Gegen­ent­wurf Boca Juniors am ita­lie­ni­schen Immi­gran­ten­hafen La Boca gegründet, ehe sich die beiden him­mel­weit von­ein­ander ent­fernten und den Fuß­ball von Buenos Aires zu zwei gegen­sätz­li­chen Welt­an­schau­ungen machten. River zog 1938 in den wohl­ha­benden Norden um und ist seitdem im Monu­mental mit seinen 65000 Plätzen zu Hause. Der Klub in den weißen Hemden mit dem roten Quer­streifen über der Brust beschäf­tigte vor­über­ge­hend die teu­erste Beleg­schaft des Pla­neten, ent­lohnte seine Stars mit Gold, daher der Bei­name Mil­lio­na­rios. River bezahlte Idole wie di Ste­fano, Mario Kempes, genannt: El Matador, der Töter, und den uru­gu­ay­ischen Künstler Enzo Fran­ces­coli, El Prin­cipe, der Prinz, wegen dem Zine­dine Zidane seinen Sohn Enzo nannte.

Legionen von Spit­zen­kräften machten bei River Sta­tion. Heut­zu­tage steht noch der sucht­kranke Ariel Ortega in den ehr­wür­digen Reihen, genannt: El Bur­rito, das trau­rige Esel­chen. Oder der talen­tierte Diego Buo­n­anotte, der Ende 2009 im kata­stro­phalen Stra­ßen­ver­kehr der Peri­pherie bei einem Unfall drei Freunde verlor und als Ein­ziger über­lebte. Nach einer depri­mie­renden Serie kann der argen­ti­ni­sche Rekord­meister inzwi­schen froh sein, wenn der kluge Trainer Ángel Cappa den Abstieg ver­hin­dert. Die Ret­tung ist dann mög­li­cher­weise aber nur dem Umstand geschuldet, dass Ver­bands­fürst Gron­dona für solche Fälle eine Pro­zent­re­ge­lung ein­ge­führt hat. Es wird der Durch­schnitt der Punkt­zahlen aus drei Halb­jahren gerechnet, was Neu­linge benach­tei­ligt.

Ein­ziger Trost ist, dass es den Boca Juniors der­zeit nur unwe­sent­lich besser geht, obwohl dort wieder der oft ver­letzte und noch öfter belei­digte Regis­seur Juan Roman Riquelme ange­stellt ist und der unver­wüst­liche Tor­jäger Martin Palermo. Reif für den Diwan“, riet die Zei­tung La Nación“ kürz­lich nach einer erneuten Nie­der­lage. Reif für die Couch, schließ­lich ist Buenos Aires auch die Welt­haupt­stadt der Psy­cho­logie. Nir­gendwo sonst ist die Dichte an Psy­cho­the­ra­peuten so hoch.

Bloß der AC Mai­land hat mehr inter­na­tio­nale Titel gesam­melt als Boca, das mehr noch als River Hei­ligtum ist und Reli­gion. Ich folge dir überall hin, ich liebe dich jeden Tag mehr“, singen die hüp­fenden Lieb­haber auf den Rängen. Es ist ein Gefühl, ich kann nicht auf­hören.“ Bis zum Tod und der Bei­set­zung auf dem ver­eins­ei­genen Friedhof? Ein­ge­weiht wurde der Toten­acker bei Kilo­meter 33 der Auto­bahn Buenos Aires – La Plata im Jahr 2006 vom Boca-Getreuen José Luis Monzón. Jetzt habt auch ihr einen Platz hier und im Himmel“, ver­kün­dete der Geist­liche. Es ist eine Ehre, im Namen von Boca eine Par­zelle für Spieler, Fans und Funk­tio­näre zu haben, auf der wir eines Tages ruhen werden.“

Die Lebenden bleiben in ihrem teils tou­ris­tisch-pit­to­resken, teils her­un­ter­ge­kom­menen Sprengel am ver­dreckten Kanal Riachuelo und den bunten Well­blech­häu­sern, in denen einst die Ein­wan­derer aus Genua abstiegen. Los Xen­eizes, die Genueser, ver­passten ihrer Schöp­fung die Farben Gelb und Blau, nach dem ersten Schiff, das in jenem Moment anlegte. Es war ein schwe­di­sches.

Jeder weiß, dass das Boca-Refu­gium La Bon­bonera zum Zen­trum eines Natur­er­eig­nisses werden kann. Das Viereck zit­tert nicht, wenn der glatz­köp­fige Zeug­wart, Ein­peit­scher und frü­here Preis­boxer Oscar Laudonio die Spieler auf dem Gras begrüßt. Es bebt. Über den Boca-Block legt sich eine rie­sige, gelb­blaue Fahne, darauf steht: Nos pueden imitar, pero igu­a­l­arnos jamás“ – Ihr könnt uns nach­ma­chen, aber ihr werdet uns nie errei­chen.“ Dann wackelt auch das Museum in den Kata­komben mit seinem Mara­dona in Bronze, die Hand auf dem Herzen. Mein Herz, oder was davon übrig ist, gehört Boca“, ver­kün­dete der herz­kranke Genius einmal. Er wurde bei Boca berühmt, bevor ihn Bar­ce­lona kaufte, und zog bei Boca 1997 das Trikot schließ­lich aus. Seit der frü­here Prä­si­dent und heu­tige Bür­ger­meister Mau­ricio Macri Vip-Boxen ein­bauen ließ und ihm die erste davon ver­kaufte, feiert er dort zwi­schen seinen peri­odi­schen Abstürzen die wun­der­samen Wie­der­ge­burten. Nur der Job als Natio­nal­trainer hielt Mara­dona eine Zeit­lang vom Dasein als Schlach­ten­bummler fern.

Am stärksten werden die Erd­stöße in La Bon­bonera, wenn echte Gefahr droht: River! Der Super­clá­sico ist die Mutter aller Klas­siker. Drei von vier Argen­ti­niern ver­ehren Boca oder River, nie­mals beide. Boca gegen River in der Bon­bonera steht für die eng­li­sche Zei­tung The Observer“ an der Spitze jener 50 Sport­er­eig­nisse, die ein ver­nünf­tiger Mensch gesehen haben muss. Schalke gegen Dort­mund, Inter gegen Milan, Ran­gers gegen Celtic? Kin­der­kram. River zu besiegen ist wie mit Julia Roberts ins Bett zu gehen“, erläu­terte Mara­dona. Für andere ist es Krieg. Es begegnen sich dabei La Doce, die Zwölf, und Los Bor­ra­chos del Tablón, die Besof­fenen von der Theke, die Hoo­li­gans beider Fronten. Solange es harmlos bleibt, beschimpfen die von Boca die von River als Gal­linas“, feige Hühner, und die von River die von Boca als Bos­teros“, das waren die Sammler von Pfer­dekot. Wird es unge­müt­li­cher, dann kann es Tote geben, und das nicht nur dort.

Der Clá­sico: Inde­pen­di­ente gegen Racing

Boca und River sind bloß die inneren Gegen­pole eines Magnet­felds, das die wahn­wit­zigsten Span­nungen erzeugt. Äußere Anti­poden liegen zum Bei­spiel in der grauen Indus­trie­sied­lung Avel­la­neda auf der anderen Seite der Pueyr­redón-Brücke hinter der Kloake Riachuelo, wo Inde­pen­di­ente und Racing nur 300 Meter von­ein­ander ent­fernt zu Hause sind. Ihr Duell ist ein Clá­sico. Inde­pen­di­ente spielt in seiner neuen, rot­weiß ange­malten Heimat Libert­adores de Amé­rica. Sieben Mal hat die einst­mals welt­beste Ver­einself die Copa Libert­adores abge­räumt, die süd­ame­ri­ka­ni­sche Ver­sion der Cham­pions League, so oft wie kein anderer, und zweimal auch den Welt­pokal. Aller­dings war das letzt­mals 1984 der Fall, als noch Jorge Bur­ruchaga stürmte und mit der Nummer 10 auf dem Rücken Ricardo Bochini trickste, Mara­donas Vor­bild und den Banausen jen­seits des Atlan­tiks so gut wie unbe­kannt. Vamos, Maestro“, sagte Mara­dona, als Bochini im WM-Halb­fi­nale 1986 gegen Bel­gien für ihn ein­ge­wech­selt wurde und trotz seiner sagen­haften Technik nur eine ein­zige WM-Minute absol­vierte.

Racings Kult­stätte nennt sich El Cilindro, der Zylinder, eröffnet wurde das Rund aus Beton 1950 im Namen des Gene­rals Perón. Zu den aktu­ellen Gesin­nungs­ge­nossen gehören der vor­ma­lige Staats­chef Néstor Kirchner, aber der letzte Titel stammt von 2001, denn Racing teilt mit Schalke 04 und 1860 Mün­chen außer den Farben und dem treuen Anhang auch den Hang zu Unge­mach und Schei­tern. Vor einigen Monaten wäre bei­nahe Glo­be­trotter Lothar Mat­thäus Trainer geworden, ehe er mit einer E‑Mail absagte – schade um das Expe­ri­ment. Auf dem Ober­ring hüpft den­noch der Fan­klub La Guardia Impe­rial, die Kai­ser­liche Wache. Und auf ewig trägt Racing den Ehren­namen La Aca­demia, weil der Klub so viele große Spieler her­vor­brachte. Ende der glor­rei­chen Sech­ziger ver­tei­digte Alfio Basile, el Coco, und Anfang der Sieb­ziger stand Ubaldo Fillol im Tor, el Pato, die Ente.

Das Viertel Parque Patri­cios wie­derum wird regiert von Atlé­tico Huracán, das sein Zau­ber­jahr 1973 mit den Wir­bel­winden Carlos Houseman und Carlos Babington hatte, der eine später wegen Alko­hol­pro­blemen abge­stürzt, der andere heute Prä­si­dent. Huracáns Fes­tung ist das Estadio Tomás Adolfo Ducó, El Palacio. Regis­seur Juan José Cam­pa­nella drehte in diesem Palast die Fuß­ball­szenen von Das Geheimnis in ihren Augen“. Der Film gewann in diesem Jahr den Oscar für den besten aus­län­di­schen Film. Huracáns his­to­ri­scher Wider­part ist San Lorenzo, das mit seinem Boll­werk Nuevo Gasó­metro, dem Neuen Gas­werk, 1993 in eine der gefähr­lichsten Ecken von Buenos Aires umzog, neben den Slum mit der Kenn­nummer 1.11.14. Das ist auch inso­fern bizarr, als zu seinen Edel­fans und Mäzenen auch Mar­celo Tinelli gehörte, Argen­ti­niens bekann­tester Show­master. Die best­ge­führten und des­halb dezen­testen Klubs indes sind Vélez Sars­field in Liniers und der Club Atlé­tico Lanús, ent­spre­chend gehören beide meis­tens zur Spit­zen­gruppe, wo sonst nur Estu­di­antes de La Plata zuver­lässig auf­taucht. Boca und River sind wie gesagt daraus ver­schwunden, wäh­rend man den Argen­tinos Juniors auf immer dankbar sein muss, dass sie sei­ner­zeit den Wuschel­kopf Mara­dona erst in der Pause Ball und Orangen hoch­halten ließen und ihn 1976 im Spiel gegen Tal­leres Cór­doba ein­wech­selten, mit erst 15 Jahren.

Zwei Tote nach 0:2 – Wir haben aus­ge­gli­chen“

Sie alle und viele andere beherr­schen ihre Viertel. Ihre Basis ist noch immer die Unter­schicht, nicht das Opern­pu­blikum wie in den durch­ge­stylten Tem­peln von Real Madrid und Bayern Mün­chen. Die Lieb­lings­farben werden durch Gene­ra­tionen hin­durch ver­erbt und not­falls mit Mes­sern und Pis­tolen ver­tei­digt. Spiele geraten mit­unter zu Schlachten im rau­chigen Nebel der Feu­er­werks­ra­keten, 249 Men­schen fielen dem Irr­sinn bis­lang zum Opfer. Ersto­chen, erschossen, erdrückt. Die ersten waren 1939 Oscar Muni­toli, neun Jahre alt, und Luis López, 41, ermordet bei Lanús gegen Boca. Der bisher letzte war Roberto Camino, 38, nie­der­ge­streckt in diesem Jahr in Rosario. Es ist der Terror der Barras Bravas, jener Hard­core-Ver­sion der Hin­chas. 1994 gewann River 2:0 gegen Boca, später brachten die Barras aus dem Boca-Dunst­kreis zwei River-Getreue um und erklärten: Wir haben aus­ge­gli­chen.“

Wegen Schre­cken und Anar­chie musste die Saison mehr­fach unter­bro­chen werden. Inzwi­schen ent­stand sogar eine Ver­ei­ni­gung namens Sal­vemos al fútbol, Retten wir den Fuß­ball. Der Fuß­ball­ver­band Afa hat Regeln ein­ge­führt wie in einem Not­stands­ge­biet: Es wurden Zäune hoch­ge­zogen, und die Sei­ten­wahl fällt aus, weil der Gäs­te­tor­wart in der zweiten Halb­zeit nie mit dem Rücken zum Pulk der Gast­geber stehen kann. Die Gäs­te­fans müssen erst in sicherem Abstand eskor­tiert worden sein, ehe die Haus­herren ihre Plätze ver­lassen dürfen. Oft dürfen gar keine Besu­cher hinein oder es wird an neu­tralen Orten gespielt. Aber die Gewalt richtet sich nicht nur gegen fremde Fans, son­dern auch gegen die eigene Umge­bung. Es geht um Macht und um kri­mi­nelle Geschäfte, um den Ver­kauf von Tickets, Tri­kots, Drogen. Und um Politik.

Die Regie­rung Kirchner ent­sandte dieses Jahr einen Ver­bund mit Namen Ver­ei­nigte Fans Argen­ti­niens zur WM ans Kap, dar­unter Vor­be­strafte, die im Gegenzug dafür beim Wahl­kampf helfen. Süd­afrikas Polizei schickte sie zurück. Als der Schwer­kri­mi­nelle Rafael di Zeo, frü­herer Rädels­führer von Bocas La Doce, wegen Mord­ver­suchs ver­ur­teilt worden war, besuchte ihn der popu­läre Angreifer Palermo im Gefängnis. Einmal sorgten Gim­nasio-Fans dafür, dass ihr Team gegen Boca verlor, um dem Lokal­ri­valen Estu­di­antes zu schaden. Der heu­tige Ban­field-Stürmer Sant­iago Silva gab zu: Uns wurde eine Kugel in jedes Bein ange­droht, sollten wir gewinnen.“

Der Sit­ten­ver­fall hat viele Gründe, der Staats­bank­rott in den Jahren 2001/02 und die poli­ti­sche Kor­rup­tion sind zwei davon. Die Sta­dien sind oft bau­fällig, die Polizei ist zu schlecht aus­ge­bildet oder ver­dient an den Machen­schaften der Barras Bravas mit. Fuß­ball in Buenos Aires ist ein Geschäft wie der Handel mit Rin­dern und Soja, denn kaum jemand hat mehr und bes­seren Roh­stoff. Tau­sende Talente haben dieses uner­schöpf­liche Reser­voir ver­lassen und bevöl­kern die Ligen der Welt. Diego Mara­dona hat es aus Villa Fio­rito in den Himmel geschafft und in die Hölle. Carlos Tévez aus den düs­teren Tra­ban­ten­bauten von Fuerte Apache bis ins Herz Eng­lands nach Man­chester. Gon­zálo Higuaín ging über River zu Real Madrid. Wenn Inter Mai­land, der FC Bar­ce­lona, der FC Bayern oder wer auch immer irgendwo Meister wird, dann ist in der Regel auch irgend­einer aus Buenos Aires am Ball. Allein 2009 haben 1716 argen­ti­ni­sche Fuß­ball­spieler das Land ver­lassen, mehr als Bra­si­lianer (1443), das Gros davon kam aus Buenos Aires. Ver­mut­lich bevöl­kern über­haupt mehr Por­teños die Fuß­ball­felder des Globus als Cariocas aus Rio de Janeiro, und es werden immer mehr. Denn die Ver­eine brau­chen Geld, die Ver­mittler sind zahl­reich, und das Selbst­be­wusst­sein ist trotz aller Pro­bleme groß. Was ist das beste Geschäft der Welt, lautet die Frage in einem Witz? Ant­wort: Einen Por­teño für das kaufen, was er wert ist – und für das ver­kaufen, was er wert zu sein glaubt.

80 Pro­zent der Spieler finden in Europa Anstel­lung, der Rest in Ara­bien, Russ­land, China. Manche spielen vorher nicht mal mehr in Argen­ti­niens erster Liga, son­dern wech­seln direkt aus den Nach­wuchs­teams, die Dealer haben es zu eilig. Wenigs­tens ein Jahr sollten sie doch in der Pri­mera A ver­bracht haben, bittet des­halb Bocas Nach­wuchs­chef Ramón Mad­doni, der Leute wie Juan Pablo Sorín, Fer­nando Gago und Carlos Tévez ent­deckt hat. Seit 40 Jahren leiden wir unter diesem Exodus“, klagt River-Trainer Cappa.

Auch im Fuß­ball leidet Argen­ti­nien unter dem nost­al­gi­schen Gefühl, dass früher vieles besser war. Doch zugleich gibt es immer neue Hoff­nungen, die so sicher sind, wie der Staats­pleite eine Rekord­ernte folgt. Und irgend­wann kommen sie schließ­lich auch alle zurück, ob zu Län­der­spielen im Monu­mental oder dorthin, woher sie kamen, die Mara­donas, Riquelmes oder Ayalas. Heim nach Buenos Aires, wo die Melan­cholie wohnt und der Fuß­ball.

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