Du bist zu schnell fr uns

Publish date: 2024-11-05

René Müller, wenn Sie sich an Ihre Kind­heit erin­nern: Was sehen Sie? Und was rie­chen Sie?

Jeden­falls nicht das Grau und den Smog, die heute die DDR sym­bo­li­sieren! Nein, ich sehe und rieche die Wiesen meiner Heimat Mark­klee­berg, einer kleinen Stadt bei Leipzig. Nach der Schule habe ich sofort den Ranzen volley in die Ecke gedon­nert und bin hin­aus­ge­laufen, um Fuß­ball zu spielen. Jeden Tag.

Und die Haus­auf­gaben?

Ach, die waren zweit­rangig. Mein Vater hatte vollstes Ver­ständnis, dass ich sofort kicken wollte. Er wäre selbst gern Fuß­baller geworden, aber er hatte einen kleinen Fri­seur­salon, für eine eigene Kar­riere blieb da keine Zeit. Ich habe also in gewisser Weise seinen Traum gelebt.

Wie sah denn dieser Traum aus?

Vom und für den Fuß­ball zu leben. Fuß­ball zu atmen. Wenn mein Vater mich zu seinen Alt­her­ren­spielen mit­nahm, sog ich den Geruch von Gras, Schweiß und Leder in mich auf. Auch das ist ein sol­cher Sin­nes­ein­druck, der geblieben ist: die Luft in der Kabine. Ah! Herr­lich!

Wenn Jungs von einer Fuß­ball­kar­riere träumen, wollen sie meis­tens Spiel­ma­cher oder Stürmer werden. Sie wurden Tor­wart.

Das Tor­wart­spiel ist im Laufe der Jahre zum Leit­motiv meines Lebens geworden: hin­fallen und auf­stehen, hin­fallen und auf­stehen, immer wieder. Ich bin kein Rhein­länder, der von Natur aus opti­mis­tisch ist – ich bin ein Sachse, der gelernt hat, dass Lie­gen­bleiben alles noch schlimmer macht.

Wer kam auf die Idee, Sie in den Kasten zu stellen?

Ich selbst. Wir spielten mit der BSG Akti­vist Mark­klee­berg ein Tur­nier gegen die großen Ver­eine der Stadt. Ich war recht beweg­lich, da ich neben dem Fuß­ball noch zweimal in der Woche zum Turnen ging. Also stellte ich mich ins Tor, um das Schlimmste zu ver­hin­dern. Das hat so gut geklappt, dass ich von Lok Leipzig ent­deckt wurde.

Als Keeper muss man lei­dens­fähig sein.

Das bin ich! Schon beim Fuß­ball auf den Wiesen kam es vor, dass die Großen den Kleinen eine Kippe auf dem Ober­schenkel aus­drückten. Ich aber bin nicht wei­nend nach Hause gelaufen, ich habe meinen Mann gestanden. Die Angst vor Schmerzen kannst du dir nicht abge­wöhnen – du darfst sie gar nicht erst haben. Nicht als Boxer, nicht als Ski­springer, nicht als Stürmer. Und erst recht nicht als Tor­wart.

Zahlen Sie heute den Preis für Ihren bedin­gungs­losen Ein­satz?

Meine Knie- und Hüft­ge­lenke sind arg lädiert. Der Fuß­ball war mein Gott, aber ein zer­stö­re­ri­scher. Jedes Spiel war eine hei­lige Messe, die nicht ohne mich statt­finden durfte.

Als Ihr größtes Spiel gilt das Halb­fi­nale im Euro­pa­pokal der Pokal­sieger zwi­schen Lok Leipzig und Giron­dins Bor­deaux 1987: Sie hielten zwei Elfer und knallten den ent­schei­denden selbst ins linke obere Eck.

Das war natür­lich klasse, aber nur ein Spiel von vielen. Ich habe alle ernst genommen, ob nun auf den Wiesen von Mark­klee­berg oder im Leip­ziger Zen­tral­sta­dion vor Zehn­tau­senden von Fans. Ich habe mich überall geär­gert, wenn mir der Ball rein­ge­flutscht war, und Glücks­hor­mone aus­ge­schüttet, wenn ich ihn pariert hatte.

Das eine Spiel ihres Lebens gibt es also nicht.

Das Spiel des Lebens ist das Leben selbst.

Das klingt phi­lo­so­phisch, dabei waren Sie auf dem Platz ein berüch­tigter Heiß­sporn. Was trieb Sie an?

Auch wenn Sie mich jetzt aus­la­chen: Ich wollte auch in dieser kleinen, komi­schen DDR das errei­chen, was Bayern Mün­chen erreicht hat.

Wie prä­sent waren denn die West­stars in Ihrem Alltag?

Im Staats­fern­sehen natür­lich gar nicht, aber weil mein Vater wie viele andere eine Antenne durchs Dach geschoben hatte, konnten wir ARD und ZDF emp­fangen. Als Kind habe ich Die Augs­burger Pup­pen­kiste“ geguckt, aber noch viel lieber die Bun­des­liga, die Euro­pa­po­kal­spiele und die Welt­meis­ter­schaften. So habe ich Sepp Maier vom FC Bayern und Horst Wolter von Ein­tracht Braun­schweig gesehen, über­ra­gende Tor­hüter, von denen ich mir einiges abschauen konnte.

Wie wäre es ange­kommen, wenn Sie offen gesagt hätten, dass Maier und Wolter ihre Vor­bilder sind?

Über­haupt nicht gut. Aber es gab ja auch im Osten Männer, zu denen ich auf­blickte. Als Ball­junge im Zen­tral­sta­dion sah ich fan­tas­ti­sche Keeper, etwa Jürgen Croy von der BSG Motor Zwi­ckau, Hans-Ulrich Sprotte“ Grapen thin vom FC Carl Zeiss Jena oder Werner Friese von Lok Leipzig.

Letz­teren beerbten Sie 1979 als Stamm­tor­wart.

Am Ende der Saison 1976/77 konnte ich mich schon einmal beweisen, als Werner wegen einer Gür­tel­rose aus­fiel. Ich fie­berte schon dem FDGB-Pokal­fi­nale gegen Dynamo Dresden ent­gegen, aber dann spielte Werner doch. Trotzdem werde ich diese Kulisse im Sta­dion der Welt­ju­gend in Ost-Berlin nie ver­gessen, als bei jeder Tor­raum­szene 50.000 Men­schen raunten wie ein Natur­phä­nomen. Auch wenn wir 2:3 ver­loren und ich nur auf der Bank saß, hatte ich Lunte gero­chen und wusste nun end­gültig: Tor­wart, das wird mein Beruf!

Berufs­fuß­baller zu sein, das bedeu­tete in der DDR etwas anderes als in der BRD.

Das war keine Frage der indi­vi­du­ellen Klasse, son­dern des Marktes. In der DDR waren wir letzten Endes Leib­ei­gene. Es durfte keine Stars geben, man glaubte ja an das Kol­lektiv, wir hatten nicht aus­rei­chend Auto­gramm­karten, weil das Papier so knapp war, und wir ver­dienten nur einen Bruch­teil der West­ge­hälter. Nach der Wäh­rungs­re­form 1990 hatte ich noch 15.000 DM auf der hohen Kante – davon hätte ich mir gerade mal einen Polo in Grund­aus­stat­tung kaufen können. Tat ich aber nicht.

Mit ihrem Drang, Großes zu leisten, stießen Sie in der DDR buch­stäb­lich an Grenzen. Hatten Sie je Flucht­ge­danken?

Als ich sieb­zehn Jahre alt war, wurde Jörg Berger, damals der auf­stre­bende Trainer des DDR-Fuß­balls, von den Funk­tio­nären aus dem Ver­kehr gezogen, weil er sich wei­gerte, nach seiner Schei­dung erneut zu hei­raten. Das hat uns mit­ge­nommen, und mein Vater sagte zu mir: René, wenn du gehen willst, dann geh! Auf deine Mutter und mich musst du keine Rück­sicht nehmen.“ Es wäre ein­fach gewesen. Auf einer Reise mit der Junio­ren­na­tio­nal­mann­schaft nach Hagen hätte ich, statt in die Kabine zu gehen, in irgend­einen Lini­enbus ein­steigen können. Wir konnten uns auf sol­chen Reisen ja frei bewegen.

Sie stiegen nicht in den Bus.

Nein, weil ich meine Heimat nicht ver­lassen wollte. Das habe ich auch zu meinem Vater gesagt: Ihr seid doch meine Familie! Ich lasse euch nicht allein zurück.“


Jörg Berger war 1979 in die Bun­des­re­pu­blik geflohen – auf einer Län­der­spiel­reise nach Jugo­sla­wien, an der auch Sie teil­nahmen.

Wir Jungen fanden es regel­recht geil, was er sich da getraut hatte. Erst später habe ich mir die Frage gestellt: Was wird denn aus seiner Familie? Das war die andere Seite dieser Ent­schei­dung.

Wäh­rend einer Län­der­spiel­reise nach Schweden 1984 wurden auch Sie ver­däch­tigt, Ihre Repu­blik­flucht zu planen.

Was nicht der Fall war! Ich hatte doch gerade ein Haus gebaut, Leipzig war meine Heimat – warum hätte ich all das ein­fach hinter mir lassen sollen? Die ganze Geschichte war frei erfunden. Als Fuß­baller wäre ich tot gewesen, wenn man die Vor­würfe auf­recht erhalten hätte. Ein Gedanke ging mir immer wieder durch den Kopf: Was pas­siert, wenn jetzt Schluss ist? Dann komme ich hier nie mehr raus!“ Die Reisen mit Lok und der Natio­nal­mann­schaft waren ja die ein­zige Mög­lich­keit, andere Länder zu ken­nen­zu­lernen.

Wer steckte hinter der Kam­pagne?

Einige Monate zuvor hatte ich Bodo Rut­wa­leit vom BFC Dynamo im Tor der Natio­nal­mann­schaft abge­löst. Und Bodo war das Lieb­lings­kind des Stasi-Chefs Erich Mielke. Ein typi­sches Mielke-Manöver: Er wollte mich kalt­stellen. Die Insze­nie­rung ging so weit, dass meine Eltern getrennt von­ein­ander ver­hört wurden. Obwohl die Stasi-Leute wussten, dass ich mich zu diesem Zeit­punkt in Leipzig befand, sagten sie zu ihnen: Ihr Sohn hat sich ins Aus­land abge­setzt.“ Es war per­fide.

Ein Brief von Man­fred Ewald, dem Prä­si­denten des Turn- und Sport­bunds, ret­tete Ihre Kar­riere.

Das weiß ich selbst erst seit 2004! Der Autor Hanns Leske hat mir diesen Brief zuge­spielt, und ich sagte nur: Ewald? Warum der?“ Er war ein berüch­tigter Fuß­ball­hasser! Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum er sich bei Egon Krenz, dem Sekretär des Zen­tral­ko­mi­tees der SED, für meine Begna­di­gung ein­ge­setzt hat. Und es wird ein Geheimnis bleiben: Ewald ist ver­storben, meine Stasi-Akte ent­hält ab dem Jahr 1984 keine Ein­träge mehr. Auch dafür liegen die Gründe im Dun­keln.

Wie lebt es sich, wenn man Teil eines Rän­ke­spiels ist, dessen Logik man nicht ver­steht?

Man wird para­noid. Schon kurz nachdem ich Rut­wa­leit ver­drängt hatte, musste ich Repres­sa­lien über mich ergehen lassen. So sollte ich in ein Gerichts­ver­fahren wegen Steu­er­hin­ter­zie­hung ver­wi­ckelt werden, weil ich Jürgen Raab von Carl Zeiss Jena mit einem Brief­mar­ken­händler bekannt­ge­macht hatte, gegen den ermit­telt wurde. Da wusste ich: Jetzt hast du die Stasi am Arsch!“ Ich hatte ständig das Gefühl, über­wacht zu werden. Ab 1985 habe ich mich nur noch im engsten Fami­li­en­kreis bewegt. Zu anderen Men­schen hatte ich das Ver­trauen ver­loren.

Zum Euro­pa­pokal-Finale 1987 nach Athen beglei­tete Sie Ihre Frau, Sie waren noch kin­derlos. Waren Sie da in Ver­su­chung, sich gemeinsam mit ihr in den Westen abzu­setzen?

Das war für mich nie eine Option, zumal dann immer noch die Daheim­ge­blie­benen mas­sive Pro­bleme mit der Staats­si­cher­heit bekommen hätten. Wenn über­haupt, dann wollte ich auf legalem Wege in den Westen wech­seln. Schon 1984 bin ich zur Sport­füh­rung gegangen und habe dafür plä­diert, dass die besten Spieler ins Aus­land gehen dürfen. Nur dann hätte sich der DDR-Fuß­ball wei­ter­ent­wi­ckeln können.

Willi Lemke wollte Sie tat­säch­lich zum SV Werder Bremen holen.

Ich hatte über Jahre Kon­takt zu ihm, jedes Mal, wenn ich im Aus­land war und nicht abge­hört werden konnte, habe ich ihn ange­rufen. Er wollte mich als Nach­folger von Dieter Bur­denski ver­pflichten, wir waren uns aber einig, dass nur ein offi­zi­eller Wechsel in Frage kam.

Der kam nicht zustande.

Leider nicht. Karl Zim­mer­mann, der Gene­ral­se­kretär des DFV, war mir zwar wohl gesonnen, aber er sagte: Du bist zu schnell für uns.“ Dass nicht ich zu schnell, son­dern sie zu langsam waren, das war spä­tes­tens 1989 klar.

Um Wech­sel­er­laubnis zu bitten, muss ris­kant gewesen sein.

Viel­leicht war ich naiv. Aber damals wie heute kann ich nicht anders, als offen zu dis­ku­tieren. Erst 1987 habe ich gemerkt: Du kämpfst ver­geb­lich. Im DDR-Fuß­ball wird sich nichts mehr bewegen.

Was war geschehen?

Karl Zim­mer­mann war gestorben – ich glaube bis heute, dass er keines natür­li­chen Todes gestorben ist, son­dern liqui­diert wurde. Er war die letzte Bas­tion gegen die Ein­fluss­nahme des Staates. Er hatte sogar Schieds­richter gesperrt, die Spiele zugunsten des Stasi-Klubs BFC Dynamo ver­pfiffen hatten. Sein Nach­folger Wolf­gang Spitzner, ein ehe­ma­liger Offi­zier, ver­kör­perte das Gegen­teil: Er wollte, dass wir den Natio­nal­trainer mit Genosse Zapf“ anspre­chen. Die jungen Spieler wie Ulf Kirsten, Andreas Thom oder Thomas Doll haben sich kaputt gelacht.

Die Deka­denz eines unter­ge­henden Sys­tems.

Das hat mich unglaub­lich geär­gert, zumal es uns die WM-Teil­nahme 1990 gekostet hat. Des­halb bin ich nach der ent­schei­denden Nie­der­lage gegen die Türkei auch aus der Natio­nal­mann­schaft zurück­ge­treten. Zu dem sport­li­chen Nie­der­gang mischte sich der poli­ti­sche: Es kam der Tag, an dem ich die Panzer sah, als ich von Bad Düben nach Leipzig fuhr. Sie waren bereit, die Mon­tags­de­mons­tra­tionen nie­der­zu­schlagen und ein Blutbad anzu­richten, wie schon 1953. Zum Glück kam es nicht dazu. Aber ich wusste: Du wirst für dieses Land nicht mehr spielen. Es fällt aus­ein­ander. So oder so. 

Bei der Wie­der­ver­ei­ni­gung waren Sie 31 Jahre – ein biss­chen zu alt, um noch ein paar Mark zu machen.

Immerhin habe ich noch in der Bun­des­liga spielen können, was mir für die längste Zeit meiner Lauf­bahn uner­reichbar erschien. Ich habe noch ein paar gute Jahre bei Dynamo Dresden gehabt, beim FC St. Pauli hätte ich mich auch gern durch­ge­setzt, aber da wollte mein Körper nicht mehr. Ich gräme mich nicht: Ich hätte ja mit sieb­zehn abhauen können, damals, beim Junio­ren­län­der­spiel gegen den DFB in Hagen. Ich habe es an diesem Tag und auch danach nicht getan. Des­halb habe ich keinen Grund, mich zu beschweren.

Sie haben 48 Län­der­spiele bestritten, waren dreimal Pokal­sieger und zweimal Fuß­baller des Jahres – in einem Land, das nicht mehr exis­tiert. Erfüllt Sie das mit Wehmut?

Wissen Sie, die Wiesen von Mark­klee­berg sind mitt­ler­weile von den Braun­koh­le­bag­gern zer­stört worden. Jetzt findet man dort eine Seen­land­schaft, geflu­tete Tage­bau­flä­chen. Das ist eine Meta­pher für mich: Meine Heimat, sie ist unter­ge­gangen.

Und damit auch die Erin­ne­rung an den DDR-Fuß­ball. Im kol­lek­tiven Gedächtnis des wie­der­ver­ei­nigten Deutsch­land hat bes­ten­falls Spar­wasser Platz.

Das ist der Lauf der Dinge, irgend­wann ver­blasst jede Erin­ne­rung. Oder glauben Sie, dass in 200 Jahren noch jemand von Pelé, Becken­bauer oder Cruyff redet?

Wenn das, was wichtig war, ver­blasst – was bleibt am Ende des Tages?

Die Liebe meiner Frau. Sie kannte mich als Natio­nal­tor­wart, als Fuß­baller des Jahres, als stolzen Mann, als eitlen Mann. Sie hat mich aber auch erlebt, als ich am Boden war. Und sie hat immer zu mir gehalten.

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